„Das haben wir uns jetzt verdient“, denke ich und steige schnaufend von meinem Fahrrad ab. Nach der komfortablen Zugfahrt mit dem Ziel Bahnhof Hildesheim ging es mit dem Fahrrad zum rund 16 Kilometer entfernten Schloss Marienburg. Die Strecke: malerisch schön an Feldern und Wäldern vorbei. Das Wetter wie im Bilderbuch: blauer Himmel, Schäfchenwolken, milde Temperaturen, Sonnenschein. Doch jetzt bin ich aus der Puste. Das letzte Stück bergauf hatte es in sich. Doch der Anblick des Märchenschlosses entschädigt für die Qual auf den letzten Kilometern – und die Aussicht auf Tee und Gebäck sowieso!
Schloss Marienburg: Gebaut zwischen 1858 und 1867 im neugotischen Stil war ein Geschenk von König Georg V. an seine Gemahlin Königin Marie, die ihr „kleines Eldorado“, wie sie es nannte, nur ein knappes Jahr bewohnen durfte. Der Krieg mit Preußen zwang die Familie ins Exil nach Österreich. Heute ist das Schloss Museum und Veranstaltungsort für viele kulturelle Feste und Termine, so wie dem „High Tea“. An jedem ersten Donnerstag im Monat lädt Journalistin und Literatur-Expertin Angelika Hornig zur englischen Tea-time in der ehemaligen Kutscherremise im Schloss ein.
Doch erstmal lasse ich mir das Schloss von Gästeführerin Hanna Rebetisch zeigen: 140 Räume, 365 Backformen in der Küche, eine Treppe, die ins Nirgendwo führt, ein Kronleuchter bei dem „alles in Butter“ ist und ein Kalender mit dem Tageblatt 23. Juni 1886. Neugierig? Dann solltet ihr unbedingt an einer Schlossführung teilnehmen, denn an dieser Stelle wird dazu nicht mehr verraten…
Es ist 16:30 Uhr. Ich sitze an einem fein gedeckten Tisch in der Kutscherremise. Vor mir feines Porzellan, Tee und eine Etagere mit Köstlichkeiten aus der englischen Teekultur: Sandwiches mit Gurke, Ei und Currycreme, Scones, Marmelade, Clotted Cream, Short Bread, Eclaires und Muffins. Zum kulinarischen Genuss kommt auch noch ein Hörerlebnis. Die Literatur-Expertin Angelika Hornig entführt ihre Gäste unterhaltsam und kurzweilig in die literarische Welt. Das heutige Thema „Love Letters“.
Wir starten eine Reise durch vier Jahrhunderte mit einem Gedicht von Lord Byron, dem großen Dichter der englischen Romantik. Lady Osborne schrieb bereits im 17. Jahrhundert sehr selbstbewusst an ihren künftigen Mann William Temple, welche Eigenschaften eines Mannes sie nicht schätzte: „Ich habe keine Geduld mit Gecken“, heißt es da unter anderem. Nach einer kurzen Pause, um nochmal Wasser für den Tee aus dem Samowar zu zapfen, geht es weiter mit William Butler Yeats, dem großen irischen Nationaldichter. Es folgt eine Kurzgeschichte von der in Neuseeland geborenen und in London aufgewachsenen Katherine Mansfield.


Es ist eine Freude, Angelika Hornig zuzuhören. Sie liest langsam, flüssig, betont an den richtigen Stellen und verleiht der Geschichte eine Stimmfarbe, die perfekt zur Atmosphäre im Schloss und zur englischen Teezeremonie passt – buchstäblich ein Genuss mit vielen Facetten.
Die literarische Reise lässt Angelika Hornig im 20. Jahrhundert enden. Victor Sawdon Pritchett schrieb modern und ein wenig desillusioniert über die Liebe einer emanzipierten jungen Frau zu einem verheirateten Mann – und über das Ende der Gefühle.
Doch die Literatur-Expertin ist nicht nur Vorleserin. Sie versteht sich auch ein wenig als Vermittlerin von Literatur. Jeder Geschichte, jedem Gedicht schickt sie die Biographie der Autoren voraus. So fällt es leicht, sich in die jeweilige Epoche und das Lebensgefühl hineinzuversetzen.
„High Tea“ findet an jedem ersten Donnerstag im Monat um 16:30 Uhr von April bis Oktober auf Schloss Marienburg statt.