Auf der Oker um Braunschweig herum ist an diesem Abend im Mai viel los: Zwei Gänsefamilien geben ihren Küken Schwimmunterricht. Ein Dutzend plüschige Schwimmvögel paddeln im Wasser. Familie Gans erreicht das Ufer. Schnatternd gibt die Mutter den Kleinen Tipps, wo sie den besten Halt finden, um an Land zu watscheln. Familie Ganter nutzt die Wartezeit für eine Extrarunde, bis auch sie sich auf die sonnige Wiese zum Trocknen legen kann.
Ein Floß mit Außenmotor schiebt sich über das Wasser. Mit an Bord sind Einheimische und Gäste aus dem Emsland, Lüneburg und Brasilien. Luis Simon steuert die schwimmende Bierzeltgarnitur am Villenviertel von Braunschweig vorbei. Die alten Häuser haben Balkone und große Fenster. Trampelpfade führen von den Gärten zum Wasser. Auf den Holzstegen stehen Liegestühle, Boote liegen vor Anker und Angelruten stecken in alten Fässern. Von den Bäumen baumeln Strickleitern und Seile. Im Park gegenüber steht ein Mann vor seiner Staffelei und hält den sonnigen Abend auf der Leinwand fest. Neben ihm sitzt eine ältere Dame. In ihrem Schoß liegt ein Buch. Zwei Tretboote kommen dem Floß entgegen. In ihnen ein paar Jugendliche, die sich ein Rennen liefern. Sie juchzen, kreischen und spritzen einander nass.
Viel Grün, viel Natur mitten in der Stadt
„Braunschweig hat die älteste technische Universität in Deutschland. Hier studieren mehr als 18.000 Menschen in 84 Studiengängen“, weiß Luis Simon. Das Motto der Uni: „Nec aspera terrent“ – schwierige Aufgaben und Widrigkeiten schrecken die Professoren und Studierenden wenig, genau wie die Gründer 1745.
Das Floß gleitet unter vielen Brücken durch. Der Floßkapitän sagt: „Vierundzwanzig Brücken queren die Oker in Braunschweig.“ Unter manchen parken Tretboote, unter anderen hängen Lichterketten und einige werden einfach nur als Überquerung genutzt. „Bei der nächsten Brücke müssen wir uns aber ducken“, meint ein Passagier. Die Brücke ist flach, Luis Simon wendet das Floß. Dabei driftet es ein Stückchen zu weit ans Ufer und ein Gast verheddert sich in einem Ast, der auf die Oker ragt. Er lacht und schüttelt sich die Blätter aus den Haaren. Am Ufer steht eine Frau mit zwei Kindern. Das eine hält eine Angel ins Wasser. Das andere beobachtet seine Mutter, als diese versucht, seine Angelschnur aus einem Ast zu befreien. „So wird das aber nix mit dem Abendessen“, ruft der bärtige Passagier mit dem Zopf den Dreien zu. „Nee“, antwortet die Frau. „So gibt es höchstens Stockbrot.“
Der 23-Jährige steuert das Floß an einer besonders bunten Stelle vorbei. Am Ufer ranken sich Blüten, Gräser sprießen und überall stehen Schilder mit Beschreibungen. Süßlicher Frühlingsduft weht über das Wasser. Auch ein bisschen lauter ist es hier. Frösche quaken unter dem Efeu, der ins Wasser rankt. Eine Nutria zieht ihre Kreise, auf der Suche nach einem Abendsnack. Der Botanische Garten ist ein Teil der Technischen Universität. Wissenschaftler forschen, experimentieren, züchten, pikieren, pflanzen – und die Einheimischen genießen und bestaunen mehr als 4.000 Pflanzenarten. Das Grün und die vielen Blüten sind ein willkommener Kontrast zu Braunschweigs Innenstadt. Von den engen Gassen, breiten Einkaufsstraßen, Fachwerkhäusern, Statuen, Museen, dem Schloss, der Burg und dem 856 Jahre alten Löwen aus Bronze ist im grünen Ring von Braunschweig nichts zu sehen.
Am Ufer haben sich die Gänse inzwischen die Schnäbel ins Gefieder gesteckt. Drei Wachposten patrouillieren um die Gruppe auf dem Wasser und der Wiese. Luis Simon steuert das Floß zur Anlegestelle. Er hält jedem Gast die Hand und hilft beim großen Schritt an Land. Seine erste Floßfahrt als Gästeführer hat er hinter sich.